Quelle: PULStip März 2000, Autor: Dr. Tobias Frey, übernommen mit freundlicher Genehmigung


Forscher ohne Skrupel

Gen-Ärzte in den USA täuschten Behörden und Patienten über 600 mal
 
 

Drei Patienten starben, hunderte litten an Nebenwirkungen - doch die
Ärzte vertuschten es. Der Skandal um die Gentherapie in den USA zieht immer
weitere Kreise. Auch die Schweiz stoppte zwei Versuche.

Acht Stunden nach der Gentherapie bekam die 74-jährige Krebspatientin
Blutungen im Verdauungstrakt. Sie starb. Ein 74-jähriger Patient mit
Dickdarmkrebs litt wenige Stunden nach der Behandlung an Brustschmerzen
und Herzrhythmus-Störungen. Als er nicht wie abgemacht im Spital eintraf,
alarmierten die Ärzte die Polizei. Die Beamten fanden den Patienten tot zu
Hause. Eine 46-jährige Frau mit Brustkrebs starb acht Stunden nach der
Infusion mit neuen Genen. Ein 74-jähriger Patient mit Dickdarmkrebs bekam
plötzlich hohes Fieber und unregelmässigen Herzschlag. Die Ärzte konnten ihn
gerade noch retten. Diese Zwischenfälle am Beth Deaconess Spital in Boston
deckte die amerikanische Zeitung «Washington Post» Ende Januar auf. Die
Ärzte, welche die Gentherapie anwendeten, hatten die Fälle vertuscht.

USA: Nur 38 von 691 Nebenwirkungen gemeldet

Doch dies war nur die Spitze des Eisbergs. So müssten eigentlich US-Forscher
alle Nebenwirkungen, die während der Gentherapien-Studien auftreten, den
Behörden melden. Sie tun es mehrheitlich nicht.  Auch dies enthüllte die
«Washington Post». Die Behörden wussten von lediglich 38 der 691
Nebenwirkungen, die in den vergangenenen Jahren aufgetreten waren. Der
Skandal um die Gentherapie in den USA zieht immer weitere Kreise. Das St.
Jude´s Kinderspital in Memphis geriet Mitte Februar in Verdacht, über zwei
Dutzend Kinder während eines Gentherapie-Versuchs mit Aids-Viren infiziert zu
haben. Das Spital konnte zwar die Vorwürfe entkräften, doch die Behörden
untersuchen weiter, wie sorgfältig seine Mediziner die Gentherapie-Studien
durchführen.
Die Exponenten der Schweizer Gentherapie-Forschung reagieren gereizt auf die
Berichte aus den USA. Auch bei uns laufen seit über fünf Jahren Studien an
Menschen. Von teilweise übertriebenen Medienberichten spricht Karoline
Dorsch-Häsler von der Schweizerischen Kommission für Biologische Sicherheit
SKBS, welche die Versuche bewilligen muss. Der Leiter des grössten Schweizer
Gentherapie-Programms, Sandro Rusconi von der Universität Freiburg, sagt:
«Ein klassischer Fall von kollektiver Hysterie. Einige Wissenschaftler haben
enorme Fehler gemacht. Das heisst aber nicht, dass deswegen die ganze
Gentherapie korrupt sein muss.»
An den acht laufenden Gentherapie-Studien in der Schweiz nehmen etwa 100
bis 150 Patienten teil. Die meisten von ihnen haben Krebs. Wie in den USA gilt
auch bei uns: Die behandelnden Ärzte müssen die Nebenwirkungen den
Behörden - der SKBS, dem Bundesamt für Gesundheit und einer
Ethikkommission - melden.

Behörden "können nicht jedem Fall nachgehen"

Karoline Dorsch-Häsler: «Wir erhalten zwar
Meldungen über Nebenwirkungen. Doch wir können nicht jedem Fall
nachgehen.» In den meisten Fällen handle es sich dabei um Fieber, das die
behandelnden Ärzte erwarten würden. Genforscher Rusconi: «Gentherapie ist
nicht grundsätzlich gefährlich. Gefährlich ist, wenn sie Ärzte inkompetent
anwenden und der Patient nicht mehr im Zentrum steht.»
Der Tod des 18jährigen Jesse Gelsingers im vergangenen September brachte
den Skandal in den USA ins Rollen. Der Gen-Forscher James Wilson und seine
Ärztekollegen wollten den leberkranken jungen Patienten mit Genen heilen. Die
Gene verpackten sie in Erkältungsviren. Die Viren sollten die gesunden Gene zu
den Leberzellen bringen und dort ins Erbgut einbauen. Doch die Forscher von
der Pennsylvenia-Universität in Philadelphia spritzten Jesse Gelsinger viel zu
viele der gefährlichen Viren. Diese verdickten das Blut und brachten den Jungen
um. Die Welt war geschockt: Es war der erste Todesfall in der noch jungen
Gentherapie, der an die Öffentlichkeit gelangte. Beim Fall Gelsinger steht für die
Behörden mittlerweile fest: Der Genforscher James Wilson verstiess gegen 18
medizinische Vorschriften. So verheimlichte er dem Patienten, dass bereits zwei
Affen während der Versuche gestorben waren und vier Patienten unter
schweren Nebenwirkungen litten. Die Experten sind sich heute einig: Diese
Erkältungsviren dürfen nie mehr in solch grossen Mengen in die Patienten
gelangen. Gelsinger hätte zudem am Experiment gar nicht teilnehmen dürfen:
Weil die Technik noch unausgereift ist, sollten nur todkranke Patienten an den
Versuchen teilnehmen. Jesse Gelsinger konnte aber sein Leiden mit Diät und
Medikamenten kontrollieren.

In der Schweiz zwei Versuche vorzeitig gestoppt

Paul Gelsinger, der Vater von Jesse, zeigte
unmittelbar nach dem Tode seines Sohnes Verständnis für die behandelnden
Ärzte. In den vergangenen Monaten hat er seine Meinung geändert. Vor
wenigen Tagen berichtete er den Untersuchungsbehörden: «Ich hatte meinem
Sohn noch zu der Therapie zugeredet. Heute weiss ich, dass uns die Ärzte zum
Teil falsch und unvollständig informiert haben.» Unmittelbar nach dem Tod von
Jesse Gelsingers stoppten die Schweizer Behörden einen Gentherapie-Versuch
für Krebskranke. Die Schweizer Forscher planten, die Patienten mit einer
ähnlichen Menge der gefährlichen Gentech-Viren zu behandeln, die den jungen
Gelsinger umbrachte. Programmleiter Rusconi gesteht heute zudem ein, dass er
ein weiteres Projekt vorzeitig gestoppt hatte, bevor die Forscher Versuche an
den Patienten mit Herz-Kreislauf-Krankheiten durchführten. Die amerikanische
Gesundheitsbehörde FDA stoppte alle acht laufenden Gentherapie-Studien an
der Pennsylvania-Universität von Memphis, wo Gen-Forscher James Wilson
experimentiert. Mittlerweile hat das Beth Deaconess Spital in Boston, wo die
anderen drei Patienten starben, freiwillig sein Programm gestrichen. Vor
wenigen Tagen haben die Organisationen der Patienten mit Zystischer Fibrose
und dem vererbten Muskelschwund bekanntgegeben, dass sie laufende Studien
nicht mehr unterstützen wollen. Eine Kommission der amerikanischen Regierung
untersucht zudem, warum die Behörden bei der Kontrolle der Gentherapie-
Studien dermassen versagt haben.
An dieser unerfreulichen Entwicklung kann sogar Genforscher Rusconi etwas
Positives abgewinnen: «Es ist ein deutliches Zeichen für die rücksichtlosen
Experimentatoren.»
Gerade in den USA stehen die Gentherapeuten unter massivem Druck. Seit
beinahe zwanzig Jahren forschen sie intensiv mit der neuen Technik am
Menschen - ohne einen Durchbruch zu erzielen. Heute beteiligen sich weltweit
rund 5000 Patienten an 350 Studien. Die Gentherapie ist eine teure Medizin.
Eine einzige Gen-Behandlung kann 20'000 Franken kosten. Die Ärzte müssen
sie am Patienten zudem mehrere Male wiederholen. Die Bilanz der enormen
Anstrengungen ist ernüchternd: Die Gentherapie hat bis heute keinen Patienten
geheilt.


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