Gen-Ärzte in den USA
täuschten Behörden und Patienten über 600 mal
Drei Patienten starben, hunderte litten
an Nebenwirkungen - doch die
Ärzte vertuschten es. Der Skandal
um die Gentherapie in den USA zieht immer
weitere Kreise. Auch die Schweiz stoppte
zwei Versuche.
Acht Stunden nach der Gentherapie bekam
die 74-jährige Krebspatientin
Blutungen im Verdauungstrakt. Sie starb.
Ein 74-jähriger Patient mit
Dickdarmkrebs litt wenige Stunden nach
der Behandlung an Brustschmerzen
und Herzrhythmus-Störungen. Als er
nicht wie abgemacht im Spital eintraf,
alarmierten die Ärzte die Polizei.
Die Beamten fanden den Patienten tot zu
Hause. Eine 46-jährige Frau mit Brustkrebs
starb acht Stunden nach der
Infusion mit neuen Genen. Ein 74-jähriger
Patient mit Dickdarmkrebs bekam
plötzlich hohes Fieber und unregelmässigen
Herzschlag. Die Ärzte konnten ihn
gerade noch retten. Diese Zwischenfälle
am Beth Deaconess Spital in Boston
deckte die amerikanische Zeitung «Washington
Post» Ende Januar auf. Die
Ärzte, welche die Gentherapie anwendeten,
hatten die Fälle vertuscht.
USA: Nur 38 von 691 Nebenwirkungen gemeldet
Doch dies war nur die Spitze des Eisbergs.
So müssten eigentlich US-Forscher
alle Nebenwirkungen, die während
der Gentherapien-Studien auftreten, den
Behörden melden. Sie tun es mehrheitlich
nicht. Auch dies enthüllte die
«Washington Post». Die Behörden
wussten von lediglich 38 der 691
Nebenwirkungen, die in den vergangenenen
Jahren aufgetreten waren. Der
Skandal um die Gentherapie in den USA
zieht immer weitere Kreise. Das St.
Jude´s Kinderspital in Memphis geriet
Mitte Februar in Verdacht, über zwei
Dutzend Kinder während eines Gentherapie-Versuchs
mit Aids-Viren infiziert zu
haben. Das Spital konnte zwar die Vorwürfe
entkräften, doch die Behörden
untersuchen weiter, wie sorgfältig
seine Mediziner die Gentherapie-Studien
durchführen.
Die Exponenten der Schweizer Gentherapie-Forschung
reagieren gereizt auf die
Berichte aus den USA. Auch bei uns laufen
seit über fünf Jahren Studien an
Menschen. Von teilweise übertriebenen
Medienberichten spricht Karoline
Dorsch-Häsler von der Schweizerischen
Kommission für Biologische Sicherheit
SKBS, welche die Versuche bewilligen muss.
Der Leiter des grössten Schweizer
Gentherapie-Programms, Sandro Rusconi
von der Universität Freiburg, sagt:
«Ein klassischer Fall von kollektiver
Hysterie. Einige Wissenschaftler haben
enorme Fehler gemacht. Das heisst aber
nicht, dass deswegen die ganze
Gentherapie korrupt sein muss.»
An den acht laufenden Gentherapie-Studien
in der Schweiz nehmen etwa 100
bis 150 Patienten teil. Die meisten von
ihnen haben Krebs. Wie in den USA gilt
auch bei uns: Die behandelnden Ärzte
müssen die Nebenwirkungen den
Behörden - der SKBS, dem Bundesamt
für Gesundheit und einer
Ethikkommission - melden.
Behörden "können nicht jedem Fall nachgehen"
Karoline Dorsch-Häsler: «Wir
erhalten zwar
Meldungen über Nebenwirkungen. Doch
wir können nicht jedem Fall
nachgehen.» In den meisten Fällen
handle es sich dabei um Fieber, das die
behandelnden Ärzte erwarten würden.
Genforscher Rusconi: «Gentherapie ist
nicht grundsätzlich gefährlich.
Gefährlich ist, wenn sie Ärzte inkompetent
anwenden und der Patient nicht mehr im
Zentrum steht.»
Der Tod des 18jährigen Jesse Gelsingers
im vergangenen September brachte
den Skandal in den USA ins Rollen. Der
Gen-Forscher James Wilson und seine
Ärztekollegen wollten den leberkranken
jungen Patienten mit Genen heilen. Die
Gene verpackten sie in Erkältungsviren.
Die Viren sollten die gesunden Gene zu
den Leberzellen bringen und dort ins Erbgut
einbauen. Doch die Forscher von
der Pennsylvenia-Universität in Philadelphia
spritzten Jesse Gelsinger viel zu
viele der gefährlichen Viren. Diese
verdickten das Blut und brachten den Jungen
um. Die Welt war geschockt: Es war der
erste Todesfall in der noch jungen
Gentherapie, der an die Öffentlichkeit
gelangte. Beim Fall Gelsinger steht für die
Behörden mittlerweile fest: Der Genforscher
James Wilson verstiess gegen 18
medizinische Vorschriften. So verheimlichte
er dem Patienten, dass bereits zwei
Affen während der Versuche gestorben
waren und vier Patienten unter
schweren Nebenwirkungen litten. Die Experten
sind sich heute einig: Diese
Erkältungsviren dürfen nie mehr
in solch grossen Mengen in die Patienten
gelangen. Gelsinger hätte zudem am
Experiment gar nicht teilnehmen dürfen:
Weil die Technik noch unausgereift ist,
sollten nur todkranke Patienten an den
Versuchen teilnehmen. Jesse Gelsinger
konnte aber sein Leiden mit Diät und
Medikamenten kontrollieren.
In der Schweiz zwei Versuche vorzeitig gestoppt
Paul Gelsinger, der Vater von Jesse, zeigte
unmittelbar nach dem Tode seines Sohnes
Verständnis für die behandelnden
Ärzte. In den vergangenen Monaten
hat er seine Meinung geändert. Vor
wenigen Tagen berichtete er den Untersuchungsbehörden:
«Ich hatte meinem
Sohn noch zu der Therapie zugeredet. Heute
weiss ich, dass uns die Ärzte zum
Teil falsch und unvollständig informiert
haben.» Unmittelbar nach dem Tod von
Jesse Gelsingers stoppten die Schweizer
Behörden einen Gentherapie-Versuch
für Krebskranke. Die Schweizer Forscher
planten, die Patienten mit einer
ähnlichen Menge der gefährlichen
Gentech-Viren zu behandeln, die den jungen
Gelsinger umbrachte. Programmleiter Rusconi
gesteht heute zudem ein, dass er
ein weiteres Projekt vorzeitig gestoppt
hatte, bevor die Forscher Versuche an
den Patienten mit Herz-Kreislauf-Krankheiten
durchführten. Die amerikanische
Gesundheitsbehörde FDA stoppte alle
acht laufenden Gentherapie-Studien an
der Pennsylvania-Universität von
Memphis, wo Gen-Forscher James Wilson
experimentiert. Mittlerweile hat das Beth
Deaconess Spital in Boston, wo die
anderen drei Patienten starben, freiwillig
sein Programm gestrichen. Vor
wenigen Tagen haben die Organisationen
der Patienten mit Zystischer Fibrose
und dem vererbten Muskelschwund bekanntgegeben,
dass sie laufende Studien
nicht mehr unterstützen wollen. Eine
Kommission der amerikanischen Regierung
untersucht zudem, warum die Behörden
bei der Kontrolle der Gentherapie-
Studien dermassen versagt haben.
An dieser unerfreulichen Entwicklung kann
sogar Genforscher Rusconi etwas
Positives abgewinnen: «Es ist ein
deutliches Zeichen für die rücksichtlosen
Experimentatoren.»
Gerade in den USA stehen die Gentherapeuten
unter massivem Druck. Seit
beinahe zwanzig Jahren forschen sie intensiv
mit der neuen Technik am
Menschen - ohne einen Durchbruch zu erzielen.
Heute beteiligen sich weltweit
rund 5000 Patienten an 350 Studien. Die
Gentherapie ist eine teure Medizin.
Eine einzige Gen-Behandlung kann 20'000
Franken kosten. Die Ärzte müssen
sie am Patienten zudem mehrere Male wiederholen.
Die Bilanz der enormen
Anstrengungen ist ernüchternd: Die
Gentherapie hat bis heute keinen Patienten
geheilt.